Es regnete, als er mir entgegen kam. Ich hielt ihn an. "Tim, was zum Teufel machst Du hier in der Stadt?!". Er sah abgehetzt aus, und der überlange Pony seiner mittlerweile doch recht schütteren 80er Jahre Bubifrisur hing ihm klatschnaß über den Augen. Mit einer fast schon perfekt inszenierten Handbewegung strich er sich die nassen Strähnen aus dem Gesicht. Triefend naß. Es war unklar, ob er nun wirklich schwitzte, oder ob es doch nur Regen war. "Shhhh! Du hier? Ich dachte, Du wärst einer von denen. Hast mir 'n Mordsschrecken eingejagt.", röchelte es abgehetzt und in einer viel zu hohen Oktave aus Tims Mund, der mich immer ein wenig an den schmalen Mund meines alten Freundes R. erinnerte - ein vorlauter Möchtegern-Mod, der damals in den 80er Jahren sein Geld mit Staubsauger- und Dominafotografien verdiente. "Einer von denen?" fragte ich ungläubig, da Tim schon im Kindergarten, als wir noch selbstaufgenommene HuiBuh-Hörspielkassetten gegen Süßigkeiten tauschten, zu Übertreibungen neigte. Seine Stimme schien sich seither nicht sonderlich verändert zu haben, ebensowenig sein nervös zuckendes Grinsen, das in Anbetracht seiner jetzigen Gemütslage besonders stechend zur Geltung kam. "Na, einer von DENEN. Du weißt schon. Die Schweine von der Universal und die alte Fettpocke Gorny sind hinter mir her! Woll'n mich wieder zurückholen. Mit Gewalt. Aber ich kann das nich. Echt nich. Die wollen...". Ich wusste, daß jetzt irgendwas mit 'Weltherrschaft' kommen mußte. Tim hatte schon früher immer Weltherrschaftsparanoia. Als seine Mutter damals die Möglichkeit hatte, mit ihrem selbtsgebackenen, unglaublich leckeren Käsekuchen reich und berühmt zu werden, weil die lokale Supermarktkette das delikate Dessert auf breiter Masse vermarkten wollte, redete Tim ihr das wieder aus, weil er zu wissen glaubte, daß der Lidl-Markt - so hieß dieses Geschäft - eines Tages in jeder deutschen Stadt eine Filiale eröffnen, und den Käsekuchen von Frau Renner zu spottbilligen Preisen verkaufen würde. 'Mama, das ist Ausverkauf. Sellout. DAS KANNSTE NICH MACHEN!', schrie er sie an. Und es wirkte.

"...die Weltherrschaft an sich nehmen.", hechelte Tim. Ich hob verunsichert eine Augenbraue und starrte ihn skeptisch an. "Tim, beruhig Dich. Das ist doch nix schlimmes. Und Du hast doch lang genug in dem Laden mitgemacht, um zu wissen, daß die das garnicht können. Hmmmm? Reg' Dich ma ab. Wieso biste eigentlich da weg?", versuchte ich beruhigend abzulenken. Tim blickte sich hektisch um, so als wäre das, was er mir jetzt sagen wollte, eine furchtbar geheime Sache, die niemand wissen dürfe. "Shhhh, ich hab Weblog geschrieben, die ganze Zeit. Seit wir von München aus in diese Scheißstadt gezogen sind. Weil ich das doch irgendwie verarbeiten musste. Den ganzen Streß mit meiner Ollen, die Sache mit Mama und dem scheiß Kuchen. Naja, und meine kleinen Nebengeschäfte...". Ich warf ihm einen fragenden Blick zu. Seine Stimme wurde leiser, fast schon flüsternd. "Ich hab... na, ich hab, ich hab doch immer gesagt, daß ich wert auf'n nationalen Support lege. Das mir die deutschen Künstler viel wichtiger sind und so. Aber...". "Aber was???" fauchte ich ihn an, da ich schon eine kleine Befürchtung hatte. "Aber, n' Scheißdreck hab ich gemacht. Echt. Die ganze CDs, die ganzen Demos, von den ganzen jungen Bands. Alle weggeschmissen. Und an die Blindenwerkstatt verschenkt. Weil DIE das nicht wollten. Das wir mit denen was machen. Und die ganzen Bands, Du weißt schon, diese Idioten aus Berlin, Rammstein, dass sind in Wirklichkeit Metallica. Und Rosenstolz ist ein Nebenprojekt von Erasure. Das wusste keiner, ausser uns. Ich hab Euch nur Mist erzählt. Euch alle angelogen. Die wollten das so. Die Wahrheit steht in meinem Blog!"

Meine Kiefermuskulatur erschlaffte ob der Ungläubigkeit, die sich in meinem Kopf breit machte. So sehr, daß die Zigarette, die eben noch locker und lässig auf meiner Unterlippe lag, zu Boden fiel. Tim bückte sich hastig, hob sie auf, und nahm zwei tiefe Züge. Er sah dabei ein wenig wie Bruce Willis in 'Last Boyscout' aus, jedoch abgehetzter, und natürlich viel hagerer - und irgendwie auch zu weiblich. Jetzt erst bemerkte ich die feminine Note, die er an sich hatte. Cool sein passte nicht zu ihm. "Getz komm, Du erzählst Müll!" zischte ich ihn an. "Das ist der Streß. Laß uns hier mal in die Eckkneipe gehen und ein Bierchen trinken, dann regst Du Dich auch wieder ab Timmilein!". Frau Renner nannte ihn immer Timmilein wenn er weinte, und ich wußte, daß er das mochte. Und jetzt brauchte.

Wir betraten diese Spelunke namens "Zum Deutschen Eck", die von einem Griechen betrieben wurde, und in der es statt Erdnüsse nur kleine Schälchen mit Oliven und Fetakäse auf dem Tresen gab. Tim schnappte sich einen Barhocker. Er war offensichtlich müde und abgekämpft. Ich lehnte mich an den Tresen. "Zwei Bier bitte!" - "Nein, für mich kein Bier, ich nehm Prosecco auf Eis. Im langen Glas." raunte Tim in einer penetranten Tonlage zu dem langhaarigen, offensichtlich in Würde ergrauten Griechen. "Kommte soffot!" schallte es freundlich zurück. Ich blickte Tim immer noch ungläubig an. Er sah verzweifelt aus. "Du bloggst?" entfuhr es mir, und ich hatte diese Frage schon seit etlichen Minuten auf den Lippen. "Yeah. Ich musste ja irgenzwie mein Gewissen bereinigen. Wegen den lokalen Acts, Du weißt schon. Mein Gott, hab ich Scheiße gebaut. Und die Sache mit den MP3s...". Ich wurde lauter: "Halt, mooooment. Tim?!? Erst erzählst Du mir, Du hättest uns alle für Dumm verkauft, und jetzt kommt was mit MP3? Was ist denn los? Hast Du Probleme zu Hause? Kiffst Du?". Tim blickte mich mit zusammengekniffenen Augen an. Es war ein typischer 'Halt die Fresse!' Blick, der sich jedoch entschärfte, als uns der freundliche Grieche die Getränke mit einem gebrochenen "Dankaschun!" auf den Tresen stellte. Tim nahm sein Glas und leerte es in einem Zuge, während ich noch drüber nachdachte, ob ich mit dem Trinken warten sollte, bis die Schaumkrone meines Bieres zerfallen war. Ich mochte das Bier dieser Stadt nicht - aus ideologischen Gründen. Regenwald und so. "Ja. Ich hab...". Ich bemerkte jetzt erst, daß Tim leise weinte. So wie damals, als er mir gestand, daß auf den HuiBuh-Kassetten keine HuiBuh-Folgen drauf waren, sondern Auszüge aus Hörbüchern von Bohlen, Schaffrath und Küblböck. Ich hatte es ihm nie wirklich verziehen. "Ich hab bei Universal insgeheim einen MP3-Server betrieben. Tauschbörse. Den ganzen Scheiß, den wir eigentlich verkaufen wollten, hab ich zum Download angeboten. Kazaar hab ich erfunden. Meine Idee. Und ich mach das seit Jahren. Jede CD von denen. Ich wollte sie schädigen, ich wollte nicht, daß sie sich an den ganzen Acts bereichern. Ich wollte nicht..." - ich wusste, daß spätestens jetzt wieder dieses Wort ins Spiel kam - "...daß diese Schweine die Weltherrschaft an sich reissen. Und jetzt, jetzt wo ich weg bin, haben DIE DA freie Bahn." Stille füllte den Raum.

"Shhhh, Du mußt wissen, ich hab das nur für Euch gemacht. Und für Mutti. Aber ich hab versagt." Ich nahm einen hastigen Schluck Bier zu mir, da ich allmählich nervös wurde. Sollte Tims hanebüchene Geschichte doch wahr sein? "Moment mal, da ist ein Haken dran. Wieso wollen die dich zurück?" Tim richtete sich auf, packte meine Schultern, und blickte mir tief in die Augen. "Weil die verhindern wollen, daß das rauskommt. Dieser Typ da aus München, den hab ich auf der letzten Popkomm kennengelernt, der bringt ein Buch raus. Über Blogger und Blogs und so. Ich mach da mit. Hab unterschrieben. Und da stehen meine Texte drin. Die ganze Wahrheit. In dem Buch. Zusammen mit den ganzen anderen aus der Industrie, die die Schnauze voll haben. Shhhh, die Kacke is für die da oben gehörig am dampfen. Das kommt jetzt alles ans Tageslicht, und die werden alle darüber schreiben, Spiegel, Faz, SZ und so. Und die ganzen Profiblogger auch. Die werden sich aufregen, weil ich die Wahrheit sage. Weil ich alles weiß. Von den ganzen Machenschaften da. Und deshalb wollen die mich zurückholen. Die wollen mich weichklopfen, damit ich den Schwanz einziehe. Aber das mach ich nich!".

Ich legte meine Stirn in Falten, ergriff seine Hände, und schaute ihn streng an. "Tim, mach Dir keine Sorgen. Die kriegen Dich nicht. Hier, in dieser Stadt, sowieso nicht. Die ist zwar nur halb so groß wie der New Yorker Friedhof, aber mindestens doppelt so tot. Und wenn wir hier bleiben, werden wir den Kampf gewinnen. Da verwette ich Deinen und meinen Arsch drauf!!!" Tim blickte mich stutzig an: "Wieso? Wo sind wir denn hier?". Ich flüsterte. "In Siegen."
sportraucher kommentierte am 16. Jan, 10:24:
ich
geht jetzt mal davon aus, dass das was hier geschrieben steht, genau so passiert ist. wenn ihr also noch einen mitstreiter für den partisanenkampf gegen DIE braucht, habt ihr in mir einen treuen und loyalen anhänger gefunden. keine macht für die da oben! im ernst! 
shhhh entgegnete am 16. Jan, 10:26:
Jep,
Tim hat sich getz ersma schlafen gelegt.
Aber der rappelt sich schon wieder auf. 
sportraucher entgegnete am 16. Jan, 10:27:
bei dir?
wie wärs mit einem ablenkungstrinken heute abend? 
shhhh entgegnete am 16. Jan, 10:36:
Weiß noch nich.
Wenn heute, dann spät, ansonsten eher morgen im Rahmen des manischen Kreativwochenendes, oder wie wir das auch immer genannt haben... 
miss.understood entgegnete am 16. Jan, 10:36:
tim schläft gewiss
auf herrn shhhs sofa.... 
shhhh entgegnete am 16. Jan, 10:44:
Nein,
Tim hat sich in der Femina-Bar einquartiert. Sagte er braucht ein bißschen Ablenkung. Murmelte immer wieder irgendwas von wegen "...ich war eine Nutte, ich war eine Nutte..."
miss.understood entgegnete am 16. Jan, 10:49:
hmm,
bei frauen funktioniert der ansatz andersum: "wenn ich wie eine nutte behandelt werde, kann ich mich auch wie eine benehmen." 
shhhh kommentierte am 16. Jan, 10:56:
Herr Renner ist integer.
Der macht sowas nicht. Der geht nur in den Puff, weil's da die teuersten Getränke gibt. Standards bewahren. 
shhhh kommentierte am 16. Jan, 13:52:
Und getzt ist der Tommi auch wech.
Guckst Du HIER:

http://www.spiegel.de/kultur/musik/0,1518,282116,00.html 
miss.understood entgegnete am 16. Jan, 14:02:
so
hatte ich das mit "der werfe den ersten stein" aber gar nicht gemeint... 
spreeblick kommentierte am 26. Aug, 11:30:
Ach wie schön.
Und wie schade, dass ich das viel zu spät lese. Naja. Man kann nicht überall sein. Wieder ein RSS Feed mehr in meinem NetNewsWire. 
shhhh entgegnete am 26. Aug, 11:33:
Nun ja,
Timmilein lebt ja noch. Bei mir zu Hause. Im Schrank.

Danke für's Kompliment. 
 

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