Übersättigt, übermüdet. Auf der einen Seite ein Übermaß, auf der anderen ein Defizit. Beides sollte mein Problem sein. Jetzt, hier. Stattdessen beschäftige ich mich seit Stunden mit Erinnerungen. An Marcel. Meinen ersten "besten" Freund.
Ich kann mich nur vage an die Zeit erinnern, als ich Marcel kennenlernte. es war zu einer Zeit, wo man Sonntags Abends Baden mußte. Und meistens das Playmobil-Piratenschiff, oder in meinem Falle selbstgebaute U-Bootartige Konstruktionen aus Lego mit in die Badewanne nahm. Und natürlich ist Lego nie wirklich wasserdicht gewesen. Genauso wenig wie die Freundschaft zu Marcel. WIe ich ihn kennenlernte weiß ich garnicht mehr so genau. Aber ich kann mich gut erinnern, daß wir als Knirpse gemeinsam die Straßen unsicher gemacht haben. Auf Kettcars strampelnd, in Lichtgeschwindigkeit, über die Fußgängerwege unseres Stadtteils. Meine erste Gang, wenn man so will.
Er war eins von diesen Kindern, die man nie wirklich hätte leiden können. Zweckmäßige Zusammenrottung. Ich, zu jener Zeit noch modisch mit den Sünden der nicht ausklingeln wollenden 70er mißhandelt: Palomino und andere Geschmacklosigkeiten von C&A, die mir meine Mutter jeden morgen aufzwang, sowie eine abscheulichen Frisur, die der von Prinz Eisenherz nicht unähnlich gewesen sein muß (jedoch: pechschwarzes Haar und oliver Teint machen noch lange keinen Ritter aus!); und er, Rotschopf, Brillenträger, mit einem von diesen Pflastern auf dem rechten Brillenglas, mit denen man wohl ein späteres Schielen verhindern wollte, sowie leichenblasser Haut und Sommersprossen und einer mindestens genauso dämlichen Frisur - jedoch Kurzhaar. Was ihm den Vorteil brachte, an Karneval nicht mit Sätzen wie "Ihre Tochter ist aber hübsch kostümiert" in aller Öffentlichkeit blamiert zu werden.
Marcel war wesentlich härter als ich. Sein Vater war Polizist in Frührente, hatte irgendwas an der Kniescheibe, und verdingte sich seither als Privatdetektiv. Ein strenger Mann, der seinen Sohn durchaus auch härter anpackte. Trotzdem inspirierend für uns. Oft stellten wir uns vor, wir wären der Cast aus "Ein Colt für alle Fälle". Und fuhren dann mit unseren Kettcars und irgendwelchen Funkgeräten für Kinder durch die Straßen, um wilde Abenteuer zu erleben. Er wollte immer Colt Seavers sein. Ich hatte da keine Probleme mit, weil ich Lee Majors nicht ausstehen konnte. Aber ich hätte mich nie getraut ihm das so offen und ehrlich zu sagen. Und die Funkgeräte, das waren natürlich seine. Denn Marcel war ein Proto-Nerd. Noch heute bin ich der Überzeugung, daß man den Begriff "Nerd" von Marcel ableitete. Er war der mit der Technik. Der, der den ersten Computer mit Datasette hatte, und genau wußte, wie er mich damit neidisch machen konnte. Und kaum hatte ich dann endlich auch meinen ersten C64 unter großen Anstrengungen bei meinen Eltern erbettelt, nur um in Spielen wie Decathlon oder Hero mithalten zu können, war er auch schon wieder einen Schritt weiter. "Spielen? Nee, das mache ich nicht mehr. Ich schreibe jetzt Programme in Basic." Faszination und Frustration lagen eng beieinander. So sehr ich ihn mochte, so sehr ging er mir auch immer auf den Sack mit seiner Leadership-Attitude. Selbst bei Kleinigkeiten wie dem phantasievollen Straßenbahnspiel: Marcel saß am Heizkörper und benutzte den Temperaturregler als Geschwindigkeits-Steuereinheit einer virtuellen Straßenbahn, die durch sein Zimmer oder durch die Stadt fuhr. Und ich saß daneben. Wie immer. Die Nebenrolle in seinem damaligen Leben. Ohne Funktion.
Marcel war zwei Jahre älter als ich. Was ihn, gepaart mit seiner strengen Erziehung und den tollen Sachen die er immer zu erzählen oder vorzuführen hatte, natürlich zu der Person meiner frühen Kindheit machte, zu der ich aufblicken mußte. Nicht wollte. Marcel war inkompatibel zu meinen anderen Freunden, die ich allesamt aus der Schule kannte. Nicht nur wegen des Alters, auch und gerade wegen seiner verschrobenen "Nerdieness". Und seiner besserwisserischen Art, die letztendlich dafür Sorge trug, daß ich heutzutage ein großes Problem mit Menschen habe, die sich klugscheißerisch gebahren. Sie erinnern mich dann an Marcel, den Held, und da ich ja mittlerweile Alt genug bin, um mich überlegen zu fühlen, hege ich dann auch das Bedürfniß, solchen Personen gegenüber ebenfalls besserwisserisch zu reagieren. Oder verbale Gewalt einzusetzen.
Die Freundschaft zu Marcel endete abrupt. Gegen Ende meiner Grundschulzeit. Unschön. Sein Alter, sowie seine Einsamkeit, führten wohl dazu, daß er seine ersten sexuellen Erfahrungen "indirekt" an mir ausleben wollte. Nicht unbedingt im homosexuellen Sinne, sonder eher im Sinne pubertierender Jungs. Penisvergleich. "Hast Du schon mal onaniert?". Verschämt antwortete ich mit "Ja klar!", obwohl ich überhaupt keine Ahnung hatte, und damals wahrscheinlich dachte, daß Onanieren irgendwas mit Beten zu tun hatte. Als er es mir dann zeigen wollte, ergriff ich die Flucht. In dem Glauben, daß Marcel einer von diesen "Schwulen" sei, von denen meine Eltern manchmal erzählten - und von denen ich genauso wenig wusste wie von Onanie.
Ich glaube nicht, daß er schwul war oder ist. Ich glaube, es war einfach nur seine Art. Wieder den überlegenen spielen. Die Neuentdeckung vorführen. In dem Fall Selbstbefriedigung. Danach hatte ich mit Marcel nie wieder etwas zu tun. Er ist, soweit ich das bei Elternbesuchen zu Feiertagen heraushöre, mittlerweile Off-Stimme bei den RTL-Nachrichten. Meine Eltern blicken zu ihm voller Stolz auf. "Ja, der Marcel, der hat's geschafft, der verdient viel Geld und hat eine Eigentumswohnung und einen Führerschein und ein Auto. Und der ist berühmt, der ist ja jeden Abend im Fernsehen zu hören." So sitze ich dann als Gast in der kleinen Küche meiner Eltern, kratze mich am Hinterkopf und denke mir, daß ich zwar weder Geld habe, noch Popstar bin, leider nur zur Miete wohne und als Führerscheinverweigerer immer noch chronischer Beifahrer bei Freunden bin, und auch keine Badewann mein eigen nenne - aber immerhin ein erfülltes Sexualleben habe.
Und ich könnte Wetten, daß der dickliche, rothaarige Typ aus den RTL-Nachrichten genau das nicht hat. Ein typischer Nerd eben. Sexueller Frust kompensiert in Arbeit und Erfolg. Oder er ist doch schwul. Aber da möchte ich dann lieber nicht drüber nachdenken. Sollte nicht mein Problem sein. Jetzt und hier. Übersättigt, übermüdet.
Ich kann mich nur vage an die Zeit erinnern, als ich Marcel kennenlernte. es war zu einer Zeit, wo man Sonntags Abends Baden mußte. Und meistens das Playmobil-Piratenschiff, oder in meinem Falle selbstgebaute U-Bootartige Konstruktionen aus Lego mit in die Badewanne nahm. Und natürlich ist Lego nie wirklich wasserdicht gewesen. Genauso wenig wie die Freundschaft zu Marcel. WIe ich ihn kennenlernte weiß ich garnicht mehr so genau. Aber ich kann mich gut erinnern, daß wir als Knirpse gemeinsam die Straßen unsicher gemacht haben. Auf Kettcars strampelnd, in Lichtgeschwindigkeit, über die Fußgängerwege unseres Stadtteils. Meine erste Gang, wenn man so will.
Er war eins von diesen Kindern, die man nie wirklich hätte leiden können. Zweckmäßige Zusammenrottung. Ich, zu jener Zeit noch modisch mit den Sünden der nicht ausklingeln wollenden 70er mißhandelt: Palomino und andere Geschmacklosigkeiten von C&A, die mir meine Mutter jeden morgen aufzwang, sowie eine abscheulichen Frisur, die der von Prinz Eisenherz nicht unähnlich gewesen sein muß (jedoch: pechschwarzes Haar und oliver Teint machen noch lange keinen Ritter aus!); und er, Rotschopf, Brillenträger, mit einem von diesen Pflastern auf dem rechten Brillenglas, mit denen man wohl ein späteres Schielen verhindern wollte, sowie leichenblasser Haut und Sommersprossen und einer mindestens genauso dämlichen Frisur - jedoch Kurzhaar. Was ihm den Vorteil brachte, an Karneval nicht mit Sätzen wie "Ihre Tochter ist aber hübsch kostümiert" in aller Öffentlichkeit blamiert zu werden.
Marcel war wesentlich härter als ich. Sein Vater war Polizist in Frührente, hatte irgendwas an der Kniescheibe, und verdingte sich seither als Privatdetektiv. Ein strenger Mann, der seinen Sohn durchaus auch härter anpackte. Trotzdem inspirierend für uns. Oft stellten wir uns vor, wir wären der Cast aus "Ein Colt für alle Fälle". Und fuhren dann mit unseren Kettcars und irgendwelchen Funkgeräten für Kinder durch die Straßen, um wilde Abenteuer zu erleben. Er wollte immer Colt Seavers sein. Ich hatte da keine Probleme mit, weil ich Lee Majors nicht ausstehen konnte. Aber ich hätte mich nie getraut ihm das so offen und ehrlich zu sagen. Und die Funkgeräte, das waren natürlich seine. Denn Marcel war ein Proto-Nerd. Noch heute bin ich der Überzeugung, daß man den Begriff "Nerd" von Marcel ableitete. Er war der mit der Technik. Der, der den ersten Computer mit Datasette hatte, und genau wußte, wie er mich damit neidisch machen konnte. Und kaum hatte ich dann endlich auch meinen ersten C64 unter großen Anstrengungen bei meinen Eltern erbettelt, nur um in Spielen wie Decathlon oder Hero mithalten zu können, war er auch schon wieder einen Schritt weiter. "Spielen? Nee, das mache ich nicht mehr. Ich schreibe jetzt Programme in Basic." Faszination und Frustration lagen eng beieinander. So sehr ich ihn mochte, so sehr ging er mir auch immer auf den Sack mit seiner Leadership-Attitude. Selbst bei Kleinigkeiten wie dem phantasievollen Straßenbahnspiel: Marcel saß am Heizkörper und benutzte den Temperaturregler als Geschwindigkeits-Steuereinheit einer virtuellen Straßenbahn, die durch sein Zimmer oder durch die Stadt fuhr. Und ich saß daneben. Wie immer. Die Nebenrolle in seinem damaligen Leben. Ohne Funktion.
Marcel war zwei Jahre älter als ich. Was ihn, gepaart mit seiner strengen Erziehung und den tollen Sachen die er immer zu erzählen oder vorzuführen hatte, natürlich zu der Person meiner frühen Kindheit machte, zu der ich aufblicken mußte. Nicht wollte. Marcel war inkompatibel zu meinen anderen Freunden, die ich allesamt aus der Schule kannte. Nicht nur wegen des Alters, auch und gerade wegen seiner verschrobenen "Nerdieness". Und seiner besserwisserischen Art, die letztendlich dafür Sorge trug, daß ich heutzutage ein großes Problem mit Menschen habe, die sich klugscheißerisch gebahren. Sie erinnern mich dann an Marcel, den Held, und da ich ja mittlerweile Alt genug bin, um mich überlegen zu fühlen, hege ich dann auch das Bedürfniß, solchen Personen gegenüber ebenfalls besserwisserisch zu reagieren. Oder verbale Gewalt einzusetzen.
Die Freundschaft zu Marcel endete abrupt. Gegen Ende meiner Grundschulzeit. Unschön. Sein Alter, sowie seine Einsamkeit, führten wohl dazu, daß er seine ersten sexuellen Erfahrungen "indirekt" an mir ausleben wollte. Nicht unbedingt im homosexuellen Sinne, sonder eher im Sinne pubertierender Jungs. Penisvergleich. "Hast Du schon mal onaniert?". Verschämt antwortete ich mit "Ja klar!", obwohl ich überhaupt keine Ahnung hatte, und damals wahrscheinlich dachte, daß Onanieren irgendwas mit Beten zu tun hatte. Als er es mir dann zeigen wollte, ergriff ich die Flucht. In dem Glauben, daß Marcel einer von diesen "Schwulen" sei, von denen meine Eltern manchmal erzählten - und von denen ich genauso wenig wusste wie von Onanie.
Ich glaube nicht, daß er schwul war oder ist. Ich glaube, es war einfach nur seine Art. Wieder den überlegenen spielen. Die Neuentdeckung vorführen. In dem Fall Selbstbefriedigung. Danach hatte ich mit Marcel nie wieder etwas zu tun. Er ist, soweit ich das bei Elternbesuchen zu Feiertagen heraushöre, mittlerweile Off-Stimme bei den RTL-Nachrichten. Meine Eltern blicken zu ihm voller Stolz auf. "Ja, der Marcel, der hat's geschafft, der verdient viel Geld und hat eine Eigentumswohnung und einen Führerschein und ein Auto. Und der ist berühmt, der ist ja jeden Abend im Fernsehen zu hören." So sitze ich dann als Gast in der kleinen Küche meiner Eltern, kratze mich am Hinterkopf und denke mir, daß ich zwar weder Geld habe, noch Popstar bin, leider nur zur Miete wohne und als Führerscheinverweigerer immer noch chronischer Beifahrer bei Freunden bin, und auch keine Badewann mein eigen nenne - aber immerhin ein erfülltes Sexualleben habe.
Und ich könnte Wetten, daß der dickliche, rothaarige Typ aus den RTL-Nachrichten genau das nicht hat. Ein typischer Nerd eben. Sexueller Frust kompensiert in Arbeit und Erfolg. Oder er ist doch schwul. Aber da möchte ich dann lieber nicht drüber nachdenken. Sollte nicht mein Problem sein. Jetzt und hier. Übersättigt, übermüdet.
Herr shhhh
am Samstag, 24. Januar 2004, 02:59
waldar kommentierte am 24. Jan, 16:03:
reflektion des lebens
um 3 uhr morgens. das nenne ich soziale intelligenz!einen solchen marcel hatte ich nie wirklich. freundschaften schienen früher ein gewisses haltbarkeitsdatum zu haben. irgendwann waren sie abgelaufen.
frederic roux, der halb deutsche, halb franzose, war nicht nur bester freund, sondern auch der mit dem tollsten (kriegs-)spielzeug. sein vater war hoher offizier bei der französischen garnison in unserer stadt (besatzungszone saar), konnte daher immer mit uniformteilen, abgefeuerten patronenhülsen und leeren mörser-geschossen glänzen.
ich brachte dann immer brot aus der elterlichen bäckerei mit. womit hätte ich schon glänzen sollen?
dann kam der umzug nach landau-rock-city, ich blieb meiner kleinen heimat erhalten und sah frederic nie wieder. auch kein telefonat.
kurze, bittere tränen an der wiese gegenüber meinem elternhaus, ein kurzes "tschüss", zu mehr war man mit 12/13 nicht fähig. kein "war eine tolle zeit mit dir" oder "wir hören voneinander"...
damals waren trennungen entgültig, nicht diese heuchelnde art von heute, dass man "ja mal wieder was unternehmen muss", auch wenn man sich nur alle 2 jahre sieht...
dann kam matthias. alles war anders.
zum abendessen war ich eigentlich jeden tag bei ihm. da war die ganze fmilie bei brot und butter versammelt, bei uns zuhause musste jeder sehen wo er bleibt. meine zweitfamilie, so wie sich viele einen zweitwagen halten.
pfadfinder. schule. basketball. musik. spass.
das waren unsere schnittstellen. es funktierte
.
irgendwann: schulwechsel. pfadfinder = doof. skateboarden. andere musik. begrenzter spass.
ich erinnere mich gut daran, wie matthias mir oft (sehr oft) scheiben von "live", "pearl jam" oder "alanis morrisette" vorspielte, sein bruder hatte die gekauft. er dann auch. "die sind super!"
kannte ich nicht. gefiel mir auch nicht. ich war guns'n'roses. ich war maiden. ich war anders.
deshalb denke ich heute auch noch bei grunge zuerst an "mag ich nicht" und direkt danach "matthias"...
und wieder: der kontakt verlief sich, keine trennenden worte. kein: "hey, es war schön. aber lass mal gut sein!"
stattdessen nur noch runtergeschluckte "hi!"'s, wenn man sich in der kneipe über den weg läuft.
man sollte die innere gerümpelkammer irgendwann mal aufräumen.
aber da guckt ja eh keiner rein. lässt man also so liegen. man ist so frei.
shhhh entgegnete am 26. Jan, 12:03:
Herr Waldar,
dass ist so schön erzählt, daß gehört eigentlich in Ihr Blog rein.
waldar entgegnete am 26. Jan, 12:05:
sollenwer
des rübereditieren?kam mich nur so gut skizziert dadrin vor und musste sowas mal aufschreiben.
und ideenklau um 16 uhr ist auch unschön. deshalb blieb ich hier.
der trägheit wegen.
shhhh entgegnete am 26. Jan, 20:57:
Apropos:
Galore = Schönes Magazin.
pikkus kommentierte am 25. Jan, 12:35:
ich bin so froh ...
dass Du, shhh, kein Marcel bist. Obwohl, manchmal, ein bisschen Marcel, nur ein klitzkleines bisschen. Biss. Dann zuschnappen, wenn`s gilt!Das wär`s.
pikkus
shhhh entgegnete am 26. Jan, 20:56:
Ja danke,
Herr Zauberer.Das ist aber nett, daß Sie hier auch mal zum lesen .com