wird mir einiges klar!

Ich muß ein seltsames Kind gewesen sein. Denn schon damals hatte ich die merkwürdige Angewohnheit, Menschen die ich mochte, mit Nachnamen anzureden. Zum Beispiel die Besitzer des Kiosks auf der anderen Straßenseite. Ein altes, glückliches Ehepaar. Und für mich: Tante und Onkel M.

Meine Mutter half den beiden am Wochenende im Haushalt. Und an die Samstage, die ich als kleiner Junge dann bei Tante und Onkel M. im nußbaumfurnierfarbenen Wohnzimmer verbrachte, kann ich mich noch vage erinnern. Daran, daß Tante M. Samstag nachmittags immer frischgebackenen Kuchen nebst Schlagsahne auftischte. Meine Mutter, Vollblutitalienerin, war im Backen genauso unfähig wie ich jetzt. Und sogesehen waren die Samstage bei Tante und Onkel M. eine willkommene Abwechslung in meinem von Pasta und Pasta und Pasta geprägten Kindheitsalltag. Werthers Echte-Idylle, für ein paar Stunden.

Als ich älter wurde, benutzte ich die Anrede "Tante und Onkel M." seltener. Es war mir als Teenager irgendwie peinlich, meine erste Schachtel Zigaretten ausgerechnet bei diesen beiden lieben Menschen zu erwerben. Und da passte dann auch die Anrede nicht. Ich glaube nicht, daß sie wussten, daß die Zigaretten für mich waren, denn ich holte öfters Zigaretten und Bier an jenem Kiosk. Für meinen Vater. Sogesehen war mein Vater das Alibi für meine ersten Experimente mit Alkohol und Zigaretten.

Tante und Onkel M. wurden nur ein einziges mal mißtrauisch: Als ich mit 15 meinen ersten Playboy kaufen wollte. Ich hatte ganz mühsam neun Mark für dieses Hochglanzheftchen zusammengekratzt, und natürlich war es ein schwieriges Unterfangen, den ersten eigenen Playboy ausgerechnet bei Tante und Onkel M. zu kaufen. Teenagerjungs sind so dumm: Ich wähnte mich in Sicherheit, weil ich ja meinen Vater als Vorwand hatte. Und als ich vor diesem Kiosk, diesem Fenster in der roten Backsteinwand auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand, meine letzten Pfennige zusammenkratzte, und nach einem Playboy verlangte, mußte ich das erste mal feststellen, wie abgebrüht, skurril und herzlich zugleich alte Menschen sein können. "9 Mark für so ein Heft is doch viel zu viel! Nimm doch lieber die hier..." Onkel M. schob mir die aktuelle Ausgabe der "Praline" über den Tresen, und ich nahm sie natürlich entgegen; mich immer noch auf mein Alibi berufend. Das schnippische Augenzwinkern von Onkel M. konnte ich damals nicht einordnen.

Heute, unzählige Jahre später, muß ich immer wieder an diese peinliche Situation zurückdenken. Immer dann, wenn ich meine Eltern besuche, und das zugemauerte Fenster in der roten Backsteinwand sehe. Und immer dann, wenn ich hier, in der Stadt in der ich jetzt lebe, auf die Straße gehe, und feststellen muß, daß es hier keine Kiosks gibt.

 

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